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Hannaske nahm kein Blatt vor den Mund
13. August 1989 wurde die DDR in der Bekenntniskirche zum »Kleingarten« gemacht 
 
Von Tom Mustroph 
 
Eines von Hannaskes »Plakaten« von 1989
Repro: privat
Mit unserer Serie gehen wir bis zum Jahresende auf Zeitreise in den Alltag von 1989. Kleine wie große Ereignisse in der damals noch geteilten Stadt spielen eine Rolle. An die Atmosphäre im Wendejahr wollen wir erinnern und an Courage. Verschwundene Orte tauchen wieder auf. Von anderen wird erzählt, die erst 1989 entstanden. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. So soll sich übers Jahr ein Porträt unserer Stadt über die spannende Zeit vor 15 Jahren fügen.

Sonntag, 13. August 1989. Der Bau der Berliner Mauer jährte sich zum 28. Mal. In den Wochenendausgaben von »Berliner Zeitung« und »Neues Deutschland« wurde die »historische Notwendigkeit« ihrer Errichtung beschworen. Derweil harrten in der seit 8. August geschlossenen Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin 131 DDR-Bürger aus, die ihre Ausreise in die BRD erreichen wollten.
150 Meter von der Mauer entfernt, in einem Nebenraum der Bekenntniskirche in der Plesser Straße in Treptow, widmete sich das traditionelle Sonntagsgespräch ebenfalls diesem Thema. Hans-Jürgen Fischbeck, Michael Bartoszek und Gerhard Weigt von der Gruppe »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« stellten ihre seit 1987 zirkulierenden Thesen zur Entmündigung der DDR-Bürger vor. Der Liedermacher Hartmut Hannaske war mit seinem Programm »Wer kriecht, der kann nicht fallen« vertreten. Organisator der Sonntagsgespräche waren zwei in der Bekenntniskirche arbeitende Gruppen: das DDR-weit verbreitete Netzwerk Arche sowie eine Gruppe Ausreiseantragsteller.
Letztere wurden »wie Leprakranke behandelt«, erinnert sich Werner Hilse, damals Pfarrer in der Bekenntniskirche. Die meisten Antragsteller hatten ihre angestammte Arbeit verloren. Freunde und Bekannte zogen sich von ihnen zurück. Von vielen oppositionellen Kreisen wurden sie als Verräter betrachtet, da ihnen unterstellt wurde, die DDR preisgegeben zu haben und sie nicht mehr verändern zu wollen. Andere wiederum fürchteten, dass Ausreiseantragsteller, allein um ihr Verfahren zu beschleunigen, radikale Aktionen initiieren und damit der Staatsmacht in die Hände spielen würden.
Die Kirchen durften sich um die Antragsteller kümmern, allerdings offiziell nur im Rahmen der Seelsorge. »Als Ziel dieser Einzelbetreuung hatte die Kirchenleitung ausgegeben, die Antragsteller vom Hierbleiben zu überzeugen«, umreißt Hilse heute die damalige Situation. Der Pfarrer sah sich jedoch nicht dem Buchstaben nach an die Weisung gebunden. »Ich habe die Entscheidung dieser Menschen respektiert. Ich wollte ihnen in dieser Ausnahmesituation beistehen. Und ich wollte ihr Potenzial nutzen, um Veränderungen in der DDR zu bewirken.«
Ein Seelsorgekreis, in der die Menschen ihre Erfahrungen austauschten, entstand. Hilse, der Dialektik nicht abhold, hatte erkannt, dass individuelle Probleme durchaus gesellschaftliche Ursachen haben können. Vor allem, wenn sich die Muster ähneln. Aus dem Seelsorgekreis entwickelte sich ein Arbeitskreis, der in den einmal monatlich stattfindenden Sonntagsgesprächen über notwendige Veränderungen der DDR-Gesellschaft debattierte. Themen waren Menschenrechte, Ökologie, Demokratisierung. Schnell sprach sich herum, dass Werner Hilse ein Ohr für die Paria der DDR-Gesellschaft hatte. Schnell sprach sich auch herum, dass die Chancen auszureisen stiegen, wenn man in der Bekenntniskirche auffiel.
Das Kirchentor in der Plesser Straße galt einigen als Tor zum Westen. Zur Veranstaltung am 13. August waren nach Erinnerung des Moderators Pfarrer Dieter Ziebarth zirka 100 Menschen gekommen. »Das war weniger als üblich bei unseren Sonntagsgesprächen. Vielleicht waren die Leute im Urlaub, vielleicht hat sie das Thema nicht so interessiert«, mutmaßt er heute.
In seiner Moderation verglich er die DDR mit einem »Kleingarten«, in dem sich jeder abschotte und dadurch deformiere. Hans-Jürgen Fischbeck kritisierte in seinem Vortrag den »demokratischen Zentralismus« der SED als »zum System erhobene Ämterpatronage«. Sie sei zudem der Ausgangspunkt der die ganze Gesellschaft durchdringenden Kontroll- und Reglementierungspraxis. Dadurch werde eine Stabilität der Angst errichtet, die jedoch im Schwinden begriffen sei. Fischbeck forderte eine »neue Stabilität« ein, die durch »eine demokratische Erneuerung des Sozialismus« erreicht werden könne, »in einem breiten, offenen und öffentlichen Dialog«. Zum Abschluss rief er zu einer oppositionellen Sammlungsbewegung auf.
Damit war der Startschuss für eine neue Organisationsstruktur der Opposition gefallen. Über einen taz-Journalisten, der bei der Veranstaltung zugegen war, erreichte der Aufruf die mediale Öffentlichkeit. Innerhalb der Kirchenmauern war die Resonanz geteilt. Dieter Ziebarth erinnert sich, den Atem angehalten zu haben, ging es hier doch um eine neue Qualität von Opposition. Ausreiseantragsteller hielten jede Veränderung der DDR für unwahrscheinlich und wollten nicht in einen »Dialog« treten.
Hartmut Hannaske, voller Konzentration auf sein Konzert, hatte nicht viel von den Vorträgen mitbekommen. Er erinnert sich, Vokabeln wie »Abgrenzung« und »Absage« lasch gefunden zu haben. »Das war alles so indirekt und versteckt. Die haben sich nicht aus der Deckung getraut und sich von den Ausreisern distanziert«, lautet seine Einschätzung der Oppositionsgruppen. »Dabei«, so ist sich Hannaske sicher, »haben die Ausreiser mit ihrer Abstimmung mit den Füßen den Sturz des Regimes eingeleitet und nicht die Intellektuellen«.
In seinen Liedern nahm Hannaske kein Blatt vor den Mund. Er sang vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, von falschen Hoffnungen, mit denen man sich noch immer einlullen lasse. In – wie er heute resümiert – »prophetischer Weitsicht« sang er sogar schon von der Wiedervereinigung. Das Publikum, das er auf 300 schätzt (IM-Berichte nannten ähnliche Zahlen) »war schier begeistert«.
Pfarrer Hilse, an diesem 13. August ausnahmsweise nicht in seiner Kirche, schätzt retrospektiv die emotionale Bewegung, die durch den Liedermacher in das Auditorium gebracht wurde, für wirkungsvoller als die Diskussionen ein. Hannaske wird es freuen. Im MfS-Bericht wird er als härter und kompromissloser als Stephan Krawczyk bezeichnet. Festgenommen wurde er zu seinem eigenen Bedauern nicht. »Dann wäre ich richtig berühmt geworden«, meint er augenzwinkernd. »Eine Aufnahme für das Westfernsehen ist schon geplant gewesen.«
Ende 1989 sang er: »Warum hast Du nicht durchgehalten, Erich /noch'n viertel Jahr / dann wär ich hier im Lande/ der Dissidentenliederstar./ Vor Neid hätten nasse Hände,/ Krawtschik, Biermann und die Klier,/ doch dann kam die Wende / und kein Schwein guckt mehr nach mir.«
Hannaske startete 1996 mit der Deutschrock-CD »Ich bin Hannaske« (aufgenommen mit Musikern der Blues-Combo Engerling) eine neuerliche Sänger- und Entertainerkarriere. Nach anfänglicher Euphorie versandete jedoch das gemeinsame Projekt, kann man auch unter www.hannaske.de erfahren. Der gelernte Mathematiker und Informatiker wurde im Februar 2004 (mitsamt der Entwicklungsabteilung) entlassen und ist damit einer der ersten, auf dessen Rücken Hartz IV ausprobiert wird.
Die Pfarrer Werner Hilse und Dieter Ziebarth initiierten gemeinsam mit dem Netzwerk Arche kurz nach der Wende das erste Obdachlosenasyl in Ostberlin. Hilse organisierte zudem einen Gesprächskreis zwischen ehemaligen MfS-Angehörigen und Gemeindemitgliedern, der jedoch wegen »Unerschütterlichkeit der Tschekisten« scheiterte. Hilse ist jetzt im Ruhestand. Ziebarth engagiert sich in der Betreuung von Abschiebehäftlingen und wird im September als Helfer nach Palästina fahren. »Da soll ich noch näher an der Mauer wohnen als das in Treptow der Fall war.« Das erfuhr er schon.
Hans-Jürgen Fischbeck gründete mit Wolfgang Ullmann und anderen am 12. September 1989 die Oppositionsgruppe »Demokratie jetzt«. Nach Tätigkeiten als Abgeordneter im Berliner Landesparlament kehrte Fischbeck 1992 für zehn Jahre als Studienleiter der Evangelischen Akademie Mülheim zur Wissenschaft zurück und hat sich der Kommunität Grimnitz in der Schorfheide angeschlossen.

Nächste Folge: Party in Schöneberg. Westberlins schrillster Club »90 Grad« wird gegründet

(ND 16.08.04)

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